Der Wind

Der Wind wehte leise um das Haus. Er hörte sie im Hause weinen und sah, wie die kleine Seele ganz langsam aus dem Fenster stieg und sich fragend umschaute. Fragend und voller Vertrauen, dass jetzt alles gut war.
„Hallo Siri“, sagte der Wind, „ich wusste, dass du bald kommst.“
„Ja, Wind, nun bin ich da – und ich habe keine Schmerzen mehr! Wie oft hast du mir die Stirn gekühlt, wenn ich Fieber hatte. Und wenn ich nicht schlafen konnte, hast du mir Geschichten erzählt. Danke!“
„Das war ich, Siri.“ Die kleine Seele hörte eine vertraute Stimme hinter sich und drehte sich um. „Großmutter“, rief sie. „Richtig, du bist ja auch hier!“ Die Großmutter nahm Siri in die Arme, dann drehten sie sich um zum Haus.
„Ja“, sagte die Großmutter, „ich bin schon eine Weile hier. Aber dass du schon gekommen bist… Früher hätte ich gedacht So weit vor deiner Zeit! Heute weiß ich, dass alles seine Zeit hat.“
Sie setzten sich auf einen Stein, und der Wind strich um sie herum. Die kleine Seele zeigte auf das Haus.
„Sieh nur, Großmutter, sie stellen eine Kerze für mich ins Fenster!“ Leise sprach sie weiter:
„Drinnen weinen sie, weil ich jetzt nicht mehr bei ihnen bin, sondern hier bei dir – und beim Wind.“
„Warte, Siri“, sagte der Wind, „das ist doch die Frage: Bist du wirklich nicht mehr bei ihnen? Und hast du nicht auch einen Teil von ihnen mit hierhergenommen?“
Der Wind brauste auf und wehte um das Haus. Als er wieder bei ihnen war, rief er:
„Ja, sie weinen! Aus Schmerz und Trauer, weil du jetzt hier bist.“ Dann wurde er wieder leise und sanft: „Und bald ganz sicher auch über das, was euch jetzt verbindet…“
„Der Wind hat recht“, sagte die Großmutter, legte ihren Arm um die Schultern der kleinen Seele und zeigte zum Licht im Fenster. „Und drinnen wissen sie, dass sie den Weg auch noch gehen werden, den du schon gegangen bist. Damit bist du ihnen doch um eine wesentliche Lebenserfahrung voraus. Auch den Ältesten unter ihnen.“
Die kleine Seele rollte mit den Augen: „Ach, das ist mir alles viel zu schwierig! Mich interessiert vielmehr: Wie ist es hier denn so? Und bin ich jetzt eigentlich ein Engel?“ Sie sah die Großmutter an. „Weißt du noch, Großmutter? Als ich beim Weihnachtstheater einen Engel spielte? Mit einem langen weißen Kleid und goldenen Flügeln?“ Sie blickte an sich herunter und sah auf ihre Schuhe. „Aber so sehe ich jetzt nicht aus!“
Die Großmutter lachte und sagte zum Wind: „Ach ja, es ist immer etwas ganz Besonderes, wenn kleine Seelen zu uns kommen. Sie haben so spannende und wichtige Fragen.“ Dann wandte sie sich wieder der kleinen Seele zu: „Finde es heraus, Siri. Zieh mit dem Wind. Bei ihm bist du mit deinen Fragen gut aufgehoben. Und vermutlich wirst du anderen Seelen begegnen, die ähnliche Fragen haben wie du.“
Sie erhob sich vom Stein, und die kleine Seele fragte: „Wohin gehst du, Großmutter?“
„Ich habe andere Fragen, Siri. Wir sehen uns bald wieder. Es geht nichts verloren!“ Die Großmutter umarmte die kleine Seele. Da bemerkte Siri den grauen Panther, der in der Nähe der Großmutter wartete und sah ihnen nach, wie sie zusammen in Richtung Sonne verschwanden.
 
Die kleine Seele schob sich die Mütze aus dem Gesicht und wischte mit dem Ärmel über die Nase. Sie blickte auf das Haus und sagte nachdenklich zum Wind: „Jetzt bin ich frei und mir tut nichts mehr weh. Aber drinnen weinen sie, weil ich nicht mehr bei ihnen bin, sondern hier bei dir.“
Plötzlich leuchtete ihr Gesicht: „He Wind, mir fällt etwas ein: Vorhin hörte ich sie sagen ‚Sei nicht traurig, Siri. Du darfst gehen, gehst uns nur voraus. Wir sehen uns alle wieder in der Ewigkeit’… oder so ähnlich.“
„Ja, das habe ich auch gehört“, antwortete der Wind. „Und? Was hast du jetzt vor?“
Die kleine Seele steckte beide Hände in die Taschen: „Na, das ist doch wohl klar: Ich geh schon mal zur Ewigkeit und warte dort auf sie… Hm, also, wo ist denn eigentlich die Ewigkeit?“, fragte sie den Wind. „Ist das hier schon die Ewigkeit? Wind, du wehst doch um die ganze Welt. Kennst du nicht den Weg zur Ewigkeit?“ Aufgeregt hüpfte sie hin und her: „Gibt es eine Straße, die dorthin führt? Oder brauche ich ein Boot? Oder ein Flugzeug? Oder vielleicht eine Rakete?“
Der Wind antwortete vorsichtig: “Das ist eine gute Frage, Siri. Wo ist der Weg zur Ewigkeit, oder WIE ist der Weg zur Ewigkeit? Ich denke, das kann ich dir auch nicht so einfach beantworten. Lass uns zum Ozean fliegen und ihn fragen. Aus ihm heraus entwickelte sich alles Leben auf der Erde. Ja, lass uns zum Ozean fliegen!“
Die kleine Seele zog sich die Mütze tief ins Gesicht. Dann winkte sie noch einmal zum Haus und flog über die weiten Kornfelder mit dem Wind davon.

Beim Ozean

So kamen sie zum Ozean.
Plötzlich hörten sie den dumpfen Knall einer Explosion unter seiner Oberfläche, und das Wasser spritzte auf. Erschrocken hielt sich die kleine Seele am Wind fest und rief: „Was ist das denn?!“  
Der Ozean schnaubte: „Diese Gewaltverbrecher! Sie erhoffen sich einen größeren Fischfang, wenn sie Dynamit verwenden! Früher haben sie Angeln und Netze benutzt. Jetzt nehmen sie Sprengstoff und zerstören damit nicht nur die Pflanzen und Tiere, sondern auch mein Wasser. Und wenn es wieder ein Seebeben gibt, bekomme ich die Schuld!“
Dann knallte es noch einmal, und aus dem aufspritzenden Wasser wurde die Seele eines kleinen Fisches zu ihnen hochgeschleudert.
Benommen taumelte er durch die Luft, und der Wind fing ihn auf.
„He, komm mal her! Ist alles okay mit dir?“, fragte er.
„Na ja… jetzt ist alles gut“, antwortete der Fisch und blickte auf die Wellen. „Ich glaube, es hat nur mich erwischt. Mein Schwarm hat sich hinter dem Felsen versteckt. Sie werden mich suchen.“
Er sah die kleine Seele an und sagte leise: „Hoffentlich finden sie meinen Körper, damit sie wissen, dass ich jetzt hier bin.“
„Ich werde es ihnen erzählen!“, toste der aufgewühlte Ozean.
 
„Warum passiert bei euch so etwas Schreckliches?“, fragte die kleine Seele. „Ich dachte, ihr habt einen Meeresgott, der auf euch aufpasst?“
„Nein“, sagte der Fisch, „Gott ist doch kein Polizist! Aber ich würde ihn ja gern mal danach fragen. Vielleicht suche ich ihn!“
Der Ozean schäumte: „Diese Dynamitfischer! Bei den Menschen gibt es viele Religionen und Kulturen, und Gott – oder die Götter – haben überall andere Namen. Aber ich denke, dass nicht ein Gott dafür zuständig ist, den Menschen die Verantwortung für ihr Denken und Handeln abzunehmen!“ Heftig ließ er seine Wellen gegen einen Leuchtturm klatschen.
„Sag mal, was hast du denn jetzt vor, kleine Seele?“, fragte der Fisch.
„Ich suche die Ewigkeit“, antwortete sie. „Darum bin ich mit dem Wind hierhergekommen. Ozean, kannst du mir sagen, wo ich sie finde?“
Der Ozean konnte sich nur schwer beruhigen, und es verging einige Zeit, bis er antwortete.
„Die Ewigkeit? Nun, kleine Seele, ich weiß nur, dass nichts verloren geht: Meine Wassertropfen nicht, und auch keine Tränen. Sie verdunsten, mischen sich in den Wolken und kommen als Regen wieder zurück. So landen die Tränen deiner Eltern vielleicht als Monsunregen in der Wüste und bringen sie zum Blühen. Oder sie sind der Wassertropfen, der für die Sonnenstrahlen zum Brennglas wird und ein Buschfeuer entfacht. Oder durch sie entsteht ein Regenbogen…“
Ratlos blickte die kleine Seele zum Fisch und zuckte mit den Schultern. „Danke, Ozean. Aber ich glaube, das habe ich noch nicht verstanden.“
„Ja, Siri. Ich weiß, du suchst die Ewigkeit. Vielleicht solltest du die Wüste fragen. Was meinst du, Wind? Die Wüste kennt noch die Zeit, als sich die großen Bäume mit ihren Wurzeln an ihr festhielten.“
„Am Sand?“, fragte die kleine Seele verwundert.
„Nein“, antwortete der Ozean, „an der Erde. Aber das kann euch die Wüste selbst erzählen.“
Jetzt meldete sich der Fisch: „Halt, wartet mal! Die Ewigkeit – ist das ‚Bei Gott sein‘? Dann komme ich mit euch!“
 
In der Wüste
 
Als sie zur Wüste kamen, trieb der Wind die Sandkörner vor sich her, bis die kleine Seele und der Ozeanfisch völlig zugestaubt waren.
„Ihr müsst wissen“, erklärte der Wind, „dass ich an dieser Stelle früher über große Bäume strich. Und jetzt: alles Wüste!“
„Waren das auch die Menschen?“, fragte Siri und erinnerte sich daran, dass riesige Regenwälder abgeholzt wurden.
„Nein, nein“, hörten sie die Wüste seufzen, „das hier waren nicht die Menschen. Es gab eine Naturkatastrophe. Bei einem Gewitter hat der Blitz in einen Baum eingeschlagen. Ein großes Feuer hat alles verbrannt…“
Der Wind fuhr noch einmal in eine Sanddüne hinein und wirbelte den Sand auf.
„He, lass das!“, rief der Ozeanfisch. „Wir können nichts mehr sehen!“
„Oh, Entschuldigung“, rief der Wind. „Manchmal habe ich Lust, einen Sandsturm zu veranstalten und die gute alte Wüste etwas aufzumischen!“
Die Wüste seufzte wieder. „Ach ja, ein wenig Abwechslung ist gut für mich. Hier scheint immerzu die Sonne, es ist gnadenlos heiß. Alles vertrocknet. Da kommt mir diese Wirbelei mit dir ganz recht. Sag mal, wen hast du denn da mitgebracht?“
„Das sind Siri, die kleine Seele, und der Ozeanfisch.“ Der Wind säuselte um die beiden herum, die sich noch immer die Augen rieben. „Sie suchen die Ewigkeit.“
„Oh, ich – ich suche Gott“, ergänzte der Ozeanfisch atemlos.
 
In dem Moment, als sich die Sandkörner zu einer neuen Düne zusammengefunden hatten, kam daraus die Seele einer Wüstenblume hervor und schwebte zu ihnen hinauf.
„HALLO!“, brüllte sie und funkelte Siri an. „Ich bin vertrocknet!“ Sie bemühte sich, ihre Blütenblätter auseinanderzubreiten. Der Wind half ihr dabei, und auch Siri pustete vorsichtig auf ihre Blüte. „Nein! Lass das!“, zischte die Wüstenblume und schüttelte sich. Dabei ließ sie ihre Dornen blitzen. Wütend schaute sie den Ozeanfisch an.
„Was soll das eigentlich? Ich habe diese schöne Blüte, und sie wird nie mehr blühen! Nie mehr werde ich Besuch von den Wüstenfaltern und den anderen Insekten bekommen! Dabei hat es immer so schön gekitzelt, wenn sie meinen Nektar geholt haben!“ Ärgerlich fuhr sie fort: „Wo ist da eigentlich der Sinn des Lebens? ICH HABE NUR EINMAL GEBLÜHT!!!!“
„Ja, es ist wirklich traurig, dass du es nicht geschafft hast, meine kleine Blume!“, sprach die Wüste sanft. „Bald wird es regnen. Dann ist es hier nicht mehr wiederzuerkennen. Alles wird grün“, und die Wüste dachte an die Zeit, in der sich sogar die größten Bäume an ihrer Erde festhalten konnten.
 
Die Wüstenblume ließ ihre Dornen in der Sonne funkeln. „Na, und ihr, wo wollt ihr jetzt hin?“
„Wir suchen die Ewigkeit“, sagte die kleine Seele.
„Und Gott“, sagte der Ozeanfisch.
„Oh, ihr seid auf dem Weg zur Ewigkeit?“, fragte die Wüstenblume. „Kann ich dort wohl erfahren, was der Sinn des Lebens ist? Dann komme ich mit euch!“
„Kannst du uns den Weg zur Ewigkeit zeigen?“, wollte die kleine Seele von der Wüste wissen.

„Ja, ja, die Ewigkeit…“, antwortete sie bedächtig. „Ich weiß nur eines: Es geht nichts verloren. Jedes Sandkorn findet sich irgendwo wieder. Vielleicht liegt es am Grunde des Ozeans, oder der Wind hat es in den Garten deiner Eltern gebracht, Siri. Oder es landet im Lauf eines Gewehres und verhindert, dass eine Kugel abgefeuert wird... Feuer – ja, fragt das Feuer! Es ist im Inneren der Erde und wird aus den Vulkanen herausgeschleudert. Es kann sich selbst entzünden, sich ungeheuer ausbreiten. Und es kann sich selbst verzehren. Ja. Fragt das Feuer!“